LAST MAN Fotos: Klaus Molidor RUNNING EIN RENNEN, BEI DEM SO LANGE GELAUFEN WIRD, BIS NUR NOCH EI- NER ÜBRIG BLEIBT. DAS VERSPRICHT EINE GANZ EIGENE STIMMUNG. UND SEHR VIEL SPASS, WIE DER SELBSTVER- SUCH BEIM „HEAVY METAL ULTRA“ IN ESTLAND BEWEIST. VON KLAUS HÖFLER 94 SPORTaktiv
in Sommerabend. Ein Waldstück irgendwo im Nirgendwo Estlands. Eine Horde Menschen. Ein Rundkurs. Ein Lied. Und plötzlich rennen alle los, kommen zurück, warten. Und rennen wieder los. Immer wieder. Um das hier zu verstehen, muss man sich aufmachen nach Bell Buckle, Tennessee. Ins Jahr 2012. Damals fand die Premiere eines neuartigen Laufveranstaltungsformats statt, das sich in der Trailrunningszene mittlerweile zu einem kleinen, aber feinen Trend rund um den Erdball ausgebreitet hat: die Backyard Ultras. Es gibt sie in den USA wie in Neuseeland, in Hongkong wie in Irland, in Deutschland wie in Dubai. Immer und überall derselbe Modus, „erfunden“ von Gary „Lazarus Lake“ Cantrell, einer Ultratrailrunning-Ikone aus den USA: Es geht nicht darum, wer am schnellsten läuft, sondern wer am längsten laufen kann. „Last Man Standing“ also, ein Ausscheidungsrennen, bis nur noch einer überbleibt. Gestartet wird auf einem Rundkurs, der gemäß den offiziellen „Backyard Ultra“-Vorgaben 4,166 Meilen (6,704 Kilometer) lang sein muss. Für diese Runde hat jeder Läufer eine Stunde Zeit. Dann geht es in die nächste Runde. Je nach gelaufener Rundenzeit kann man in der verbleibenden Zeit bis zum nächsten Start rasten, essen, dehnen oder tun, was immer man tun möchte. Kommt man erst nach einer Stunde ins Ziel oder hört aus anderen Gründen auf, scheidet man aus. So lichtet sich das Teilnehmerfeld, bis am Ende nur noch ein Läufer übrig bleibt: der Sieger (auch er muss die letzte Runde aber noch binnen einer Stunde absolvieren). Alle anderen werden folgerichtig und unabhängig von der Anzahl der individuell gelaufenen Runden mit „DNF“ klassifiziert, haben sie doch die von der Gewinner-Leistung festgelegte Ziellinie nicht erreicht. Klingt hart und demotivierend, ist aber fair. Startsong statt Startschuss Die Rundenlänge ist so gewählt, dass sie nach 24 Stunden – also 24 Runden – ziemlich genau 100 Meilen, also 160 Kilometer ergibt. Dass das nicht zu hoch angesetzt ist, beweist die Bestenliste. Der bisherige Rekord, aufgestellt 2018, liegt bei 68 Runden (455,4 Kilometer) bei den Herren (Johan Steene) beziehungsweise 67 Runden (449,2 km) bei den Damen (Courtney Dauwater), wobei die US-Amerikanerin Maggie Guterl im vergangenen Jahr den Coup schaffte und erstmals die Gesamtwertung der„Backyard-Ultra“ Weltmeisterschaft (auch so etwas gibt es mittlerweile) gewinnen konnte. Last Woman Standing also. Das alles muss man wissen, um zu verstehen, was sich an diesem Sommerabend im August 2019 am „Terviserajad“, also Gesundheitspfad, in einem Waldstück in Keila, 76603 Harju maakond, Estland, abspielt. Olle Rouk, ein grundsympathischer, immer lächelnder estnischer Laufenthusiast, hat hier die Premiere eines Wettkampfs nach dem Muster des amerikanischen Vorbilds organisiert und den Lauf „Heavy Metal Ultra“ getauft. Der Zusatz „Backyard Ultra“ fehlt, weil die Runde mit 6,6 Kilometern nicht exakt den Vorgaben der offiziellen Rennserie entspricht. Dafür bietet Rouk eine besondere Motivationsspritze für seine Rundenbolzerei: Als „Startschuss“ gibt es jede Stunde einen Heavy-Metal-Song zu hören. Die Starter haben dann exakt die Liedlänge Zeit, in eine weitere Runde zu starten. Kein Startschuss also, sondern eine Startmelodie, zu der man irgendwann zwischen erstem Ton und letztem Akkord losgerannt sein muss. Mit der Anmeldung konnte man eine Playlist mit drei Lieblingsstücken aus der Rubrik „Schwermetall“ mitschicken, in der Hoffnung auch seinen Song einmal als Aufputschmittel zu hören. Den „Opener“ hatte sich Olle Rouk aber selbst reserviert – und er liegt auf der Hand: „Highway to Hell“ von AC/DC ertönt, als sich ein Rudel aus 79 Startern um 21 Uhr erstmals auf den Weg macht, darunter zu 80 Prozent Läuferinnen und Läufer aus dem skandinavischen Raum und eine Abordnung britischer Soldaten der hier stationierten Nato-Truppen. Und ein Österreicher: ich. „Du hast jetzt aber nicht gewonnen“, empfängt mich Olle Rouk nach der ersten Runde. Sein typisches Lachen ist kurzer Verwunderung gewichen. Knapp sechs Minuten vor dem zweiten Läufer passiere ich nach circa 35 Minuten das erste Mal die Ziellinie. Geplant ist das alles nicht, eher passiert. „Eine interessante Taktik, die du da hast“, kommentiert Olle das deckungsgleiche Ergebnis nach der zweiten Runde. Taktik? Habe ich keine. Auf ein „Bis zum bitteren Ende“-Rennen ist das hier für mich ohnehin nicht avisiert, eher auf einen auf rund zehn Runden angelegten, SPORTaktiv 95
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