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SPORTaktiv Juni 2017

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ULTRALAUFEN was mich da

ULTRALAUFEN was mich da erwartet. Der Mensch wächst ja mit der Herausforderung, sagt man. Ich kam mir damals eher geschrumpft vor. Vor allem kräftemäßig. Nachdem mich die zahllosen Anstiege und Abhänge so richtig zerkaut hatten, schien mich die Landschaft einfach zu verschlucken. Die meiste Zeit hetzte ich alleine über verlassene Trails, hantelte mich von Checkpoint zu Checkpoint, von denen nicht wenige hoch oben auf Passkanten oder neben Gipfelstationen lagen, stolperte durch die aufziehende Nacht dem Lichtkegel meiner Stirnlampe nach und war nach der Halbzeit eigentlich schon ausreichend „paniert“. Mit leichten Zweifeln über mein Tun passierte ich die Grenzstation zwischen der davor schon mehrmals auf konservative Art bei Straßenläufen absolvierten Marathondistanz und einer lauftechnischen Terra incognita, dem unbekannten Land der „Ultras“. Und ich gebe zu: Genuss waren die letzten Kilometer keiner mehr. Warum ich mich seither trotzdem immer wieder für einen „Langen“ anmelde? Gute Frage! Man muss nicht die Fähigkeit zur Verdrängung der Qualen und Überhöhung der schönen Momente besitzen – aber es hilft. Ein normaler Marathon ist ja ab Kilometer 37 auch nur selten mehr wirklicher Genuss. Aber die Gänsehaut beim Zieleinlauf, die stolze Freude über die eigene Leistung, das Erreichen eines selbstgesteckten Ziels – all diese Abfallprodukte der Erschöpfung liefern ausreichend Gründe zur sportlichen Wiederbetätigung. DIE „GESUNDHEITSFRAGE“ Bei „Ultras“ ist das nicht anders. Im Gegenteil. Es ist noch ausgeprägter. Der Glückshormonspiegel scheint direkt proportional mit zunehmender Größe der Herausforderung zu steigen. Verrückt? Wahrscheinlich. Gesund? Eher nicht. Zumindest der Wettkampf an sich ist es nicht. Anhand von Blutwerten lässt sich nachweisen, dass die Beinmuskulatur unter derartigen Extrembelastungen massiv leidet. Umso wichtiger ist eine gute Abstimmung der Belastungs- und Regenrationszeiten. Nicht erst rund um ein Rennen, sondern während der gesamten Vorbereitung. Der auf Zeitbudget, Ziele und physischen Zustand angepasste Trainingplan, die regelmäßige Bewegung in der Natur und die bewusste Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper ist es, die „Ultras“ wie jeden regelmäßig ausgeübten Sport zumindest nicht ungesund machen. DIE TRAININGSGRUNDLAGE An dieser Stelle wird die Ausübung des Hobbys schnell zur Glaubensfrage: Strenges Korsett eines über Wochen generalstabsmäßig strukturierten Trainingskonzepts oder eher Je-nach-Lust-und-Laune-Freestyleprogramm? „Wie es Euch gefällt“ könnte man mit Shakespeare antworten. Klar: Ein den Weisheiten der Sportwissenschaft folgendes Modell führt mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit zum Erfolg. Gute Trainer wissen ganz genau, wie man Tempohärte und Motorik verbessert, eine höhere Laktattoleranz und einen effizienteren Energiestoffwechsel erreicht und dabei die anaerobe Schwelle Richtung mehr Leistungsfähigkeit schraubt. Man muss sich zwar nicht durch diverse Spielarten von Intervallläufen und Abfolgen genau gesetzter Belastungsreize mühen, Unser Mann fürs Grobe KLAUS HÖFLER ist Redakteur der Kleinen Zeitung und als Vollblut sportler bei SPORTaktiv „der Mann fürs Grobe“. In den vergangenen Jahren nahm er an zahlreichen Ultraläufen genauso wie an anderen Extremveranstaltungen teil – etwa dem Swiss Irontrail, dem Transylvania Ultra, 24-Stunden-Wanderungen u. v. m. Oder zuletzt beim „Sciacchetrail“ an der ligurischen Küste – wie auf den folgenden Seiten nachzulesen. um wirklich schneller zu werden – aber es hilft. Wobei der individuelle Sportlerkörper der nach Allgemeingültigkeit strebenden Wissenschaft eh dann und wann einen Knoten ins Erfolgsstrickmuster knüpft. Weil nämlich die regenerativen und aufbauenden Prozesse je nach Person unterschiedlich lange dauern können. So regenerieren sich die Energiespeicher für gewöhnlich schon nach wenigen Tagen, Veränderungen in der Muskulatur benötigen dagegen länger, und die Gelenksbänder benötigen noch deutlich größere Zeitspannen. Also doch so laufen, wie es einem gerade einfällt und worauf der Körper Lust hat? Das kann für Halbmarathons reichen, alles darüberhinaus macht mit diesem Konzept wohl sehr schnell keinen Spaß, weil man wichtige Grundlagen nicht aufbaut und keine Geschwindigkeit entwickelt. Auch Ultraläufer brauchen nämlich Tempotrainings. Wer schneller auf den ganz langen Strecken unterwegs sein will, muss zunächst auf den Kurzstrecken sein Leistungsvermögen verbessern. WAS BITTE HEISST „FETZENPECKT“? Man muss ja nicht gleich Christian Schiesters Motto „Quäle deinen Körper bevor er dich quält“ folgen – aber es hilft (in manchen Momenten der faulen Lustlosigkeit). Schiester gilt als einer der erfolgreichsten Ultramaniaks der Szene. Der Steirer lief 200 Kilometer-Läufe durch verschiedene Wüstengebiete der Erde, durch Urwälder und selbst in der Antarktis absolvierte er schon einen „Ultra“. Er stillte damit immer wieder sein Bedürfnis, seine physischen und psychischen Grenzen auszuloten, machte daraus ein Lebenskonzept, das keinen Platz fürs Aufgeben lässt. Wie es einem geht und wie es weitergeht, wenn eigentlich nichts mehr geht – für dieses Gefühl führt Schiester den lautmalerisch schönen wie semantisch treffenden Dialektausdruck „fetzenpeckt“ im Sprachrepertoire. Es klingt so, wie es sich anfühlt, wenn nach 40 Kilometern und 3.000 Höhenmetern noch 600 weitere auf den letzten zehn Kilometern warten und man eigentlich keinen Meter mehr gehen, geschweige denn laufen will. FOTOS: S TRAIL-MANIAK_Woerthersee_Trail am See/Sportogra, Ötscher Marathon/Rainer Mirau Sportograf 46 SPORTaktiv

Trail- und Landschaftsläufe erleben derzeit großen Zulauf. Neben kürzeren Strecken auch Ultradistanzen anzubieten, ist in der Traillaufszene üblich. Satte Zuwachsraten sehen auch Trailrunning-Ausrüster: „Wir gehen von einem Wachstum im zweistelligen Prozentbereich aus“, berichtet beispielsweise Niklaus Roschek von Scott Sports. DAS GEMEINSCHAFTSGEFÜHL In solchen Momenten entfaltet die Ultra-Community ihre ganz eigene Qualität (für die ich nur beim ersten derartigen Lauf in den Schweizer Bergen aufgrund hochgradiger Überforderung keine Antennen hatte). Denn anders als bei gutgebuchten Stadtmarathons fehlt zwar Publikum entlang der Strecke, dafür herrscht eine Stimmung unter den Sportlern, die man bei hektischen Massenveranstaltungen, in denen man in der Anonymität versinkt, so nur sehr selten erfährt. Man läuft zusammen, feuert sich gegenseitig an, geht zusammen, steht zusammen, gönnt sich zusammen die Zeit, für Fotostopps in meist traumhaften Landschaften. In diesen Gastspielen von Gemütlichkeit liegt einer der magnetischen Reize der ausgedehnten Strapaz. (FAST) KEIN ZEITDRUCK Durch ihre räumliche Ausdehung fällt auf Ultraläufen der Zeitdruck weg. „800 oder 1.500 Meter-Läufe sind mir zu stressig, da muss man auf Knopfdruck funktionieren und jeder Schritt muss passen“, sagt beispielsweise Florian Neuschwander. „Bei einem 50- oder 60-Kilometer-Lauf dagegen kann schon einmal ein Kilometer nicht so gut sein und es ist egal.“ Bei Neuschwander ist das mit dem weniger gut laufen freilich relativ. Beim Wings for Life-Worldrun rannte er dieses Jahr über 80 Kilometer und unter die besten zehn weltweit. Der Deutsche kommt zwar von der Bahn, hat sich aber als Langstreckenläufer, der sich noch dazu sehr geschickt als cooler Skatertyp in Laufschuhen vermarktet, in der Szene einen Namen gemacht. Um zu wissen, was da nach einem Marathon eigentlich kommt, muss man es ja nicht wie er machen – aber es hilft vielleicht. Er ist einst für einen Kurzbesuch zu seiner Mutter nach Hause gelaufen. Sie hat über 100 Kilometer entfernt gewohnt. Nr. 3; Juni/Juli 2017 47

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